Auf dem Zafu
MEDITATION ist vielleicht die einfachste Form der GESUNDHEITSVORSORGE. Wenn die Praxis bloss nicht so schwierig wäre.
Wenn Berühmtheiten Lebenshilfe leisten, ist Vorsicht geboten. Das ist jedenfalls meine Erfahrung als einer, der seit vielen Jahren immer wieder mal Celebrities befragt. Und in dieser Zeit keine besonders hohe Meinung von der Beschlagenheit der Auskunftgeber, über deren sogenannte Kernkompetenz hinaus, entwickeln konnte. Weshalb ich zu Zweifeln neigte, als ich auf äusserst wohlmeinende Rückmeldungen von Leonard Cohen, David Lynch und Nick Cave über Meditation stiess (diese Künstler habe nicht ich befragt – never meet your heroes, triff niemals deine Helden, ist eine wichtige Erkenntnis, die ich nach enttäuschenden Gesprächen mit Leuten machte, zu denen ich zuvor aufgeschaut hatte –, ich stütze mich hierbei auf Fremdquellen ab).
Auf jeden Fall waren der grosse Poet/Singer- Songwriter, der grosse Regisseur und der ebenso grosse Poet/Singer-Songwriter-Rockstar des Lobes voll für die Wirkung von Meditation. Cohen verbrachte Jahre im Zen-Zentrum auf dem Mount Baldy in den San-Gabriel-Bergen mit Meditieren; während dieser Zeit, nebenbei erwähnt, unterschlug seine Buchhalterin und Anlageberaterin das meiste seines Vermögens, er nahm’s verhältnismässig locker, Meditation sei wohl Dank, und ging anschliessend für zehn Jahre oder so auf Tour, zwischen zirka siebzig und fast achtzig also, um wieder zu Geld zu kommen. Über Lynch erzählen Mitarbeiter, wie teure Filmcrews wichtige Szenen nicht drehen konnten, weil der Meister im Trailer auf einem Sitzkissen sass und befand, der richtige Augenblick zum Weiterarbeiten sei noch nicht gekommen. Und Cave schreibt, er verdanke seine geistige Gesundheit sowie seinen kreativen Output zu einem Gutteil seiner Meditationspraxis. Das sind eindrückliche Empfehlungsschreiben, ganz überzeugt war ich dennoch noch nicht, schliesslich gibt es auch zahlreiche Stars, vor allem Schauspieler, die als Grund ihrer Schaffenskraft den Einfluss der Scientology-Lehre auf ihre Persönlichkeit angeben.
TOLLER CLIFFHANGER
Überzeugt genug aber, um vor etwa zwei Jahren einen fünfteiligen Meditations-Basiskurs zu buchen (der dann Pandemie-bedingt erst mal neun Monate nach hinten verschoben werden musste). «Fokussieren wir unseren Geist, entwickelt er Kraft. Entspannt er sich, kann Klarheit entstehen. Meditation ist ein Training, nicht für mehr Muskeln, sondern für mehr Bewusstsein über uns und die Welt, die uns umgibt», stand in der Einleitung des kleinen Handbuchs zum Kurs. «Wir üben gezieltes Innehalten, Durchatmen und uns zu konzentrieren. Wir können lernen, innerlichen und äusserlichen Stress leichter aufzulösen und vor allem: Wir werden besser darin, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.» Gibt es jemanden, vor allem unter mittelalten Menschen mitten im bewegten Leben, wie man sagt, in entwickelten Ländern, der oder die das nicht als Kurzbeschrieb der eigenen Vorsätze oder Prioritäten versteht? Mich jedenfalls holte die Übungsanlage ab. Und, darf ich sagen beziehungsweise vorgreifen, heute, ein Jahr oder so nach meinem Einstieg, fällt es mir einzig schwer, zu verstehen, weshalb ich nicht schon früher damit begonnen habe.
Vielleicht darum: «Es ist schwer», wie Emmanuel Carrère in seinem Buch «Yoga» ziemlich weit vorne schreibt (das Buch hätte in meinen Augen genauso gut «Meditation» heissen können). «Unbewegt auf einem kleinen Kissen seine Atmung zu beobachten, ist genau das, was man Meditation nennt. Eine Praktik, die immer beliebter wird und die das einzige Thema dieser Erzählung gewesen wäre, wenn das Leben sie nicht, wie Sie noch sehen werden, in stürmischere Gegenden geweht hätte.» (Toller Cliffhanger, nicht wahr? Bitte lesen Sie weiter, ich empfehle das Buch.)
BERUHIGT DAS GEDANKENGEWITTER
An dieser Stelle, bevor ich weiter auf die Praxis (oder «Praktik») eingehe, die naheliegende Frage: Was hat das Ganze mit Gesundheit zu tun? Immerhin steht im Vorspann dieses Artikels «Meditation ist vielleicht die einfachste Form der Gesundheitsvorsorge». Eben. «Mens sana in corpore sano», die Geschichte der Lateiner vom gesunden Geist im gesunden Körper, ist Teil der Antwort. Beziehungsweise der Umkehrschluss: Ein gesunder Geist hilft, den Körper gesund zu machen oder zu halten. Nochmals ein Satz aus dem Kurs-Handbuch: «Meditation, so wie wir sie verstehen, gibt die nötige Kenntnis und Energie, um die Welt positiv mitzugestalten.» Wohl wahr, wenn auch hoch gehängt. «Zuerst das Zimmer aufräumen, dann die Welt verändern», kann man auch sagen. Und dann «Zimmer» als Synonym für «Geist» lesen. Meditation beruhigt das Gedankengewitter im Kopf. Meditation führt zu Klarheit im Denken. Klare Gedanken führen zu klaren Handlungen. «Statt endloses Multitasking zu betreiben, werden wir mit Hilfe einer regelmässigen Meditationspraxis zu Meisterinnen und Meistern des effektiven Monotaskings» (Handbuch).
Meine erste Meditationslehrerin war meine Mutter. Nicht dass sie Meditation betrieben oder sogar gelehrt hätte.
Nun, wie angekündigt, zurück zur Praxis. Meine erste Meditationslehrerin war – meine Mutter. Nicht dass sie Meditation betrieben oder sogar gelehrt hätte. Doch sie hatte bestimmte Einsichten gewonnen, die man auch als Ergebnis von Meditationspraxis bezeichnen darf (vielleicht auch bloss als gesunden Menschenverstand). «Denk einfach an nichts», riet sie mir, wenn ich Angst hatte im Dunkeln oder aus anderen Gründen zu aufgeregt war, um den Schlaf zu finden. Respektive wenn es mir langweilig war auf für ein Kind endlosen Zugfahrten in ihre alte Heimat, nach Kärnten in Österreich. «Denk einfach an nichts», der Satz könnte in dem angewandten Buddhismus von Thich Nhat Hanh, dem kürzlich mit 95 verstorbenen vietnamesischen Zenmeister, vorkommen oder von einem anderen grossen Lehrer sein – einfacher geht’s kaum. Und schwerer ebenfalls nicht. Ich übe es seit über fünfzig Jahren. Mit unterschiedlichem, mehrheitlich mässigem Erfolg. Willkommen auf dem metaphorischen Meditationskissen. Oder dem Weg zum «mühelosen Verweilen im dem, was ist» (Definition von Meditation im Buddhismus nach dem deutschen Dachverband Diamantweg).
Alle, die nicht alleine auf dem Zafu verweilen und die «Tiefen ihrer Nasenlöcher erkunden» mögen (Carrère), finden eine Gruppe, in der eine Lehrerin oder ein Lehrer die Meditationspraxis anleitet. Dafür gibt es eine Vielzahl von Anbietern. Manche, auf die ich bis jetzt aufmerksam wurde, sind den verschiedenen buddhistischen Traditionen verpflichtet. Ich meine das wertfrei. Doch ich bin kein religiöser Mensch, schwanke zwischen Atheismus und Agnostizismus. Für mich braucht es keine Tara, weder weiss noch grün, und keinen Avalokiteshvara, den Bodhisattva des universellen Mitgefühls (es handelt sich dabei um Erleuchtungswesen). Doch das ist egal, der Buddhismus kennt keine Dogmen und erlaubt freundlicherweise, alles in Frage zu stellen, er spricht deshalb eigenverantwortliche Menschen an (Quelle: Dachverband Diamantweg). Oder wie mein Lehrer im buddhistischen Zentrum Zollikon sagt: «Stellt euch einen Buddha vor oder eine Symbolfigur aus einer anderen Tradition, vielleicht bloss einen Stern.»
Auch das ist Praxis: Man befindet sich in einer Meditationssitzung mit anderen Leuten, darunter ein kleiner Mann mit Spitzbart und weinrotem Strickpulli, der mit einer nervtötenden Blasiertheit den lächelnden, gütigen Weisen gibt, auf den sich Emmanuel Carrère in seiner für ihn typischen Negativität sofort fixierte, wie er selbst schreibt. Was der Schriftsteller sagen will: Meditation macht einen nicht zu einem weisen Wesen, das immer über den Dingen steht. Man bleibt fehlbar und ist immer noch engherzig, manchmal. Doch man arbeitet daran. Verbessert sich, wird ruhiger, sieht und handelt klarer, wächst. Und man lernt, sich nicht länger als Zielscheibe zu erleben, weil Körper, Gedanken und Gefühle in ständiger Veränderung sind.
SELBST LEONARD COHEN FAND DIE ZEIT
Meistens klappt das nicht, jedenfalls bei Anfängern, bei allen also, die weniger als fünfzehn oder zwanzig Jahre Meditationspraxis aufweisen. Dann sitzt man auf dem Zafu, Kissen, lässt sich in den Körper fallen, wie der Lehrer vorgibt, und versucht, nicht mehr den Gedanken nachzugehen. Das sich drehende Karussell abzustellen. Ohne Erfolg. Was einem auf die Nerven fällt. Bis man sich an die Worte des Lehrers erinnert: Zu erkennen, dass man abschweift, ist eine Offenbarung, ein Heureka-Augenblick. Man darf sich darüber freuen, statt sich aufzuregen. Denn das wäre der sogenannte zweite Pfeil, derjenige, den man auf sich selbst abschiesst also (Tibeter/ Buddhisten, so sieht’s aus, haben eine Schwäche für Pfeil-und-Bogen-Analogien).
Zum Schluss das vermeintliche Killerargument gegen Meditationspraxis respektive die Entkräftung desselben: «Das ist alles schön und gut, doch ich habe wirklich nicht die Zeit dazu.» Einverstanden, Meditationspraxis benötigt Zeit. Zeit, die man manchmal nicht zu finden meint, während dichter Tage und in vollen Agenden. (Andererseits, selbst Leonard Cohen, David Lynch oder Nick Cave haben die Zeit gefunden – oder nahmen/nehmen sie sich einfach.) Es gibt keine Abkürzung, keine Schnellstrasse zu Befreiung und Erleuchtung. Bereits eine kurze Praxis dauert zwanzig bis dreissig Minuten, in einer angeleiteten Meditation sitzt man wenigstens eine Stunde, oft neunzig Minuten auf dem Kissen, Fortgeschrittene geben Wochenenden her für vertiefende Sitzungen, die Königsklasse sind Aufenthalte in der «edlen Stille», auch Schweige- Retreats oder Vipassana-Meditation genannt, sie sind tonlos und dauern zehn Tage.
Das muss nicht sein, nicht immer und nicht für alle, schon klar. Doch eine goldene Regel lautet: Jede und jeder sollte jeden zweiten Tag meditieren. Ausser Leute, die dafür zu wenig Zeit haben – sie sollten es jeden Tag tun.