ENDLICH ALT
«Sechzig ist das neue Vierzig» et cetera? Körperlich besehen ja. Wenn’s aber um das Geistige geht, ist sechzig das neue Achtzig.
Kaufmännisch gerundet bin ich sechzig (56 Jahre und ein paar Wochen, um genau zu sein). Mit anderen Worten: alt also.
Klar, Ihr Kolumnist ist mit zeitgemässen Behauptungen wie «Sechzig ist das neue Vierzig» et cetera vertraut. Und findet diese nicht mal falsch. Ich lebe heute (noch) gesünder als vor sechzehn Jahren, was beispielsweise Ernährung angeht (ausgewogener – fast kein Fleisch, wie alle, dafür reichlich Gemüse, Hülsenfrüchte –, saisonaler, regionaler; weniger Fett, Zucker, Alkohol sowieso). Treibe mehr Sport (dreimal die Woche), bin Treppensteiger statt Liftfahrer (Sie bestimmt auch). So lässt es sich kaum verhindern, körperlich fitter denn je zu sein.
Wenn’s aber um das Geistige geht, ist sechzig das neue Achtzig. So sehen es wenigstens die Jungen, die Millennials / Generation Y (geboren in den frühen 1980er bis späten 1990er Jahren) sowie die darauffolgende Generation Z. Die Mitglieder dieser Gruppen bestimmen zu einem guten Teil die Popkultur, erklären also, was geht in unserer Gesellschaft und, vor allem, was nicht. Gehen tut zurzeit Einbeziehung (inclusion) sowie Vielfalt (diversity) oder, verkürzt gesagt, «Die Minderheit hat recht» respektive being woke auf Amerikanisch. Nicht gehen tut dagegen, eine eigene Meinung zu haben respektive diese mitzuteilen. Weshalb die sogenannte Cancel-Culture (Absage- und Löschkultur) erfunden wurde. Denn nichts fürchten Gen-Y- und Gen-Z-Mitglieder so sehr wie den Shitstorm, die öffentliche Meinung gegen sich zu haben, sie brauchen unentwegt Umarmungen ihrer peers, der Gleichaltrigen.
Die gute Nachricht: Älter werden alle. Auch die Jungen. Und in der Folge liberaler, hoffentlich. Oder zumindest lockerer. Eine besonders gehemmte/verklemmte öffentliche Person, die ich kennenlernte, war Tom «Guccis Retter» Ford, als er noch Designer war. Ich erschien mal für ein Dinner in Mailand, zu dem er geladen hatte, als er noch jünger und beruflich engagiert war, pünktlich (ein Fauxpas, ich weiss). Das Team Tom war noch mittendrin, die Beleuchtung perfekt zu dimmen sowie den Gastgeber über seine Gäste zu briefen. Weshalb a) dieser keine Ahnung hatte, wer ich war, und b) das zu helle Deckenlicht den Blick durch sein dünnes Haar auf die Kopfhaut freigab (was schlimmer war). Er stand da wie das «Kaninchen im Scheinwerferlicht» aus der Redensart, und zwar, bis ein Mitarbeiter ihn erlöste respektive mich aus dem «Giacomo Bistrot» jagte.
Die gute Nachricht: Älter werden alle. Auch die Jungen. Und in der Folge liberaler, hoffentlich. Oder zumindest lockerer.
In der aktuellen Vogue – amerikanische Ausgabe, regelmässige MvH-Leser kennen seine niedrige Meinung von dieser – wird ein Gespräch mit Tom wiedergegeben (es geht um Halston, den verstorbenen Designer respektive die empfehlenswerte Netflix-Miniserie). Er spricht darin über Sex, tatsächlich: Er, Ford, habe in den 1980er Jahren gelegentlich mit Fred Hughes geschlafen, «von ‹gedatet› kann man allerdings nicht reden» (bei Hughes handelte es sich um einen wichtigen Mitarbeiter von Andy Warhol, der auch in Verbindung mit Halston stand sowie als Hetero bekannt war). Weiter redet er über Drogen – als er für Gucci arbeitete, sei ihm jeder Wunsch erfüllt worden. «Es gab immer Kokain auf dem Schreibtisch; ausserdem erzählte mir jeder, wie toll ich sei.» Der lockere Tom, heute Privatier und Filmregisseur, wird, nebenbei erwähnt, sechzig diesen August.
Wer seine Sechzigerjahre erreiche, schreibt Nick Cave, Rockmusiker und Autor, in seinem Blog «The Red Hand Files», den durchfliesse fortan ein warmes Gefühl von Freiheit, weil man «ausserhalb der aktuellen Konversation und am falschen Ende des Stocks» lebe. Was eine super Sache sei – «Es ist erlösend, als verrückter, peinlicher Onkel in der Ecke sitzen zu können». Und, Segen des Alters, schräge Ideen vertreten zu dürfen wie Rede- und Gedankenfreiheit plus Werte hochzuhalten von Humor, Chaos, Provokation bis Ungeduld gegenüber dem moralisch Offensichtlichen sowie Neutralität und Menschlichkeit. Oder, mit anderen Worten: «Danke, dass ich alt sein darf in diesen verrückt machenden Zeiten.»
Einmal im Jahr soll man als Kolumnist a) den letzten Satz jemand anderem überlassen und/oder seinen Verleger – in meinem Fall den der Weltwoche – wiedergeben. Dieser, kaufmännisch gerundet ebenfalls sechzig, sagte kürzlich zu mir: «Bisher waren wir Kindersoldaten, jetzt sind wir erwachsen, das kommt gut.»
Congratulations, Mark ! …sehr witzig und wahr geschildert. Beschrieb über Tom Ford kann ich bestätigen. Danke für diesen Beitrag, der mir am Samstagmorgen auf Mallorca die Mundwinkel noch höher zog 😄