HOFFNUNGSLOS, ABER NICHT ERNST
Wer fürchtet, die Erinnerungen des zornigen, traurigen Mädchens mit der Träne im Auge des Videos seien schwere Kost – relax. Sinéad O’Connors Memoiren lesen sich leicht.
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Wer zwischen, sagen wir, 1955 und 1970 geboren wurde, erinnert sich an die beiden laufbahnbestimmenden Augenblicke von Sinéad O’Connor: an die Träne, die ihr gegen Ende des Videoclips zum Superhit «Nothing Compares 2U» übers Gesicht lief, sowie, zwei Jahre später, an das Zerreissen eines Porträts von Johannes Paul II., damals Papst der römisch-katholischen Kirche, in der amerikanischen TV-Sendung «Saturday Night Live».
Davon erzählt die irische Sängerin in ihren selbstgeschriebenen Erinnerungen, natürlich. Während des Videodrehs habe sie an ihre Mutter gedacht und dann geweint. Was überrascht, war die geisteskranke Frau doch grausam und brutal zur jungen Sinéad sowie deren drei Geschwistern. Doch die reife Sinéad, oder Schuhada Sadaqat, wie sie sich nennt, seit sie vor drei Jahren zum Islam übertrat, hat ihr vergeben. Unter anderem, weil sie selbst geisteskrank sei und also Verständnis aufbringe.
Noch erstaunlicher ist, auf den ersten Blick wenigstens, ihre Deutung des Papstbild-Zerstörungsakts, der, so die meisten Beobachter, ihre Popstar-Karriere beendet habe. Im Gegenteil, es sei ihre Erlösung gewesen, sagt sie. Sie habe nie Popstar sein wollen. Sondern eine Protestsängerin in der Art des von ihr verehrten Bob Dylan.
Zur Priesterin geweiht
Das Foto, das, nebenbei erwähnt, das einzige Bild im Schlafzimmer ihrer frühverstorbenen Mutter gewesen war, habe sie im Gedenken an sie zerrissen, andererseits als Zeichen ihrer Wut auf katholische Pfarrer, die Kinder missbraucht hatten, von der Kirche aber gedeckt worden waren. Zur Erinnerung: Das war 1992 und der Vorwurf für viele Gläubige unvorstellbar. Sinéad ist ebenfalls gläubig, sie nannte sich «Mother Bernadette Mary», war von einem Bischof zur Priesterin der orthodox- katholischen und apostolischen Kirche von Irland geweiht worden.
Das grosse Geld brauche sie nicht, bloss für ihre vier Kinder
müsse es reichen.
Was ihr Künstler-Geschäftsmodell betrifft: Vor wenigen Leuten aufzutreten, die ihre Lieder mögen und sie, die Musikerin, verstehen, genüge ihr. Das grosse Geld brauche sie nicht, bloss für ihre vier Kinder müsse es reichen. Ich glaube ihr. (Haftungsausschluss: Ich mag ihre Musik, vor allem die frühen Alben «The Lion and the Cobra» (1987) und «I Do Not Want What I Haven’t Got» (1990) sowie ihre Reggae- Covers «Throw Down Your Arms» (2004)).
Kompliziertes Leben, lüpfig wiedergegeben
Falls der Eindruck entstand, die Erinnerungen seien schwere Kost – relax. O’Connors Memoiren lesen sich leicht und geben ihr kompliziertes Leben lüpfig wieder: unübersichtliche Familienverhältnisse, zahlreiche Halbgeschwister, vier Kinder mit drei Männern, dennoch meist alleinerziehend; Aufenthalte in «Klapsmühlen», wie sie, aber nur sie, sagen darf; wechselnde Präferenzen, mal hetero-, mal homo-, mal gar nicht sexuell. Und saftigen Klatsch tischt sie ebenfalls auf – etwa von einer Nacht mit Prince respektive auf der Flucht vor diesem oder von einem LSD-Trip durch Man- hattan mit Dee Dee Ramone.
Das Ganze kommt in der Sprache und aus der Sicht der ungefähr siebzehnjährigen Sinéad daher, wie sie sagt. Weshalb? Weil sie von achtzehn bis 53 die meiste Zeit im Marihuanarausch zugebracht und vieles vergessen habe. Ihre Erinnerungen – oder, besser, Nichterinnerungen – werde sie erst als Buch rausbringen, sagte sie einmal, wenn sie a nice, little old lady, eine nette, kleine alte Dame sei. Sie ist jetzt 54, und 1 Meter 60 misst sie, seit sie siebzehn ist. Ob sie nett und eine Dame ist, ist schwerer zu beurteilen. Irgendwie kommt sie einem reif und ruhig vor. Was ihr gut steht, finde ich. Vor allem aber gönnte man es dem zornigen, traurigen Mädchen, falls sie Frieden gefunden hat.
Sinéad O’Connor: Erinnerungen. Aus dem Englischen von Peter Peschke.
Riva. 256 S., Fr. 31.90
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