LUNCH FÜR SCHWÄCHLINGE
Falsch, kein Lunch ist für wimps – wer an einem Wochentag mittags lange zu Tisch sitzen kann, muss wer sein.
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«Mittagessen, meinen manche, seien von niedrigerem Rang als Abendessen. Aber ich denke, sie sollten gesellschaftlich höher positioniert sein. Wer an einem Wochentag von, sagen wir, 13.30 bis 16.00 Uhr zu Tisch sitzen kann, muss wer sein.» Diese Sätze sind von Ihrem Kolumnisten, er hat sie vor einigen Jahren, vierzehn, um genau zu sein, in seiner damaligen Spalte geschrieben.
Wer heute noch der Meinung ist, long lunches seien eine feine Sache, gehört wohl zu einer schwindenden Minderheit, fürchte ich. Nicht wegen «lunch is for wimps», für Schwächlinge, wie Michael «Gordon Gekko» Douglas im Film «Wall Street» meinte und in der Folge Leute, die ein Sandwich im Schreibtisch haben, wiederholen (obwohl ständig davon zu reden, wie wenig Zeit/viele Agenda-Einträge man habe, nicht mehr zeitgemäss ist). Sondern wegen des Erkenntnisgewinns, der während der Pandemie stattfand.
In den vergangenen Monaten hat auch MvH Take-out-Dienste von Restaurants nach seinem Geschmack sowie in der Nähe seines Büros genutzt. Und die gewählten Speisen am Schreibtisch respektive jüngst al fresco gegessen (ohne dabei E-Mails zu checken oder News zu lesen nach Möglichkeit, da dies wahrscheinlich nicht bekömmlich oder sogar schädlich ist. Quelle: Traditionelle Chinesische Medizin, TCM).
Nun sind seit kurzem Lokale mehrheitlich wieder offen. Dennoch verspüre ich eher selten das drängende Bedürfnis, mein Mittagessen in Gesellschaft anderer Menschen einzunehmen. Woran liegt’s, dass mir eine liebgewonnene soziale Gewohnheit nicht stärker fehlt? Zum einen daran, dass es in meinen Augen nicht besonders viele Restaurants in beziehungsweise um Zürich gibt, deren Besuch zwingend die viele nötige Zeit plus das verlangte Geld wert ist.
Ich mag das «Sala of Tokyo», wo man auch draussen prima sitzt (zur Zeit des Redaktionsschlusses war es mittags leider noch zu). Bindellas Ristorante «In Gassen» fällt mir ein für power lunches, die Platzzahl draussen ist allerdings beschränkt. «Chez Fritz» in Kilchberg ist auch okay, angenehm sogar, falls man mit dem Auto unterwegs ist (es gibt Parkplätze). Neuste Empfehlung: Seebad Zollikon, küchenqualitätsmässig ist es noch leicht steigerungsfähig, doch die Lage/Aussicht sind schwer zu schlagen. (Das war, auf vielstimmigen Leserinnen- und Leserwunsch, ein wenig Service; seine Spalte, so hört MvH, werde auch wegen solcher Tipps nachgefragt, nicht bloss für tiefschürfende Analysen zu Popkultur/harte Urteile über modernes Leben.)
Vom Spass, den ein langes Mittagessen bereitet, haben wir es bis hierher noch gar nicht gehabt.
Andererseits, falls es stimmt, dass ein Tier nicht vermisse, was es nicht kennt (Quelle: Konrad Lorenz, der Zoologe), vermisst der elegant designte Mensch vielleicht bloss nicht länger, was er vergessen hat. Was ich sagen will: Vergangene Woche hatte ich, wieder mal, eine Einladung zu einem privaten Mittagessen, ich war in Melides, südlich von Lissabon gelegen, dem neuen angesagten Sommerort (lesen Sie bald mehr darüber in dieser Zeitschrift). Gastgeberin Contessa Noemi Marone Cinzano hatte zu meinen Ehren den lokalen Baulöwen auf- geboten sowie den örtlichen Umweltschützer plus den It-Boy in Residence/Freund von Christian Louboutin, dem Schuhunternehmer, der nebenan sein Anwesen hat.
Ich kam spät zur Verabredung, weniger weil das chic ist im Süden, sondern weil ich auf dem Weg – iPhone-Karten-App sei Dank – in einem Reisfeld steckenblieb und mein Wagen mit einem Seil aus dem Sand gezogen werden musste. Nach kurzer Zeit am Tisch (sowie einigen Gläsern Weisswein vom Gut der Contessa plus Schnaps vom Erdbeerbaum mit Namen Medronho von ebendort) wusste ich bereits, wie’s in dieser schönen Ecke Europas läuft respektive wer mit wem weshalb welche Geschäfte macht (hatte also Antworten auf die meisten W-Fragen aus der Journalistenschule). Eine Zoom Call- beziehungsweise World-Wide- Web-Recherche dagegen hätte x-mal länger gedauert. Und ziemlich sicher nicht so viele sowie vergleichbar interessante Informationen geliefert.
Vom Spass, den ein langes Mittagessen bereitet, haben wir es bis hierher noch gar nicht gehabt, nebenbei erwähnt. «Lunch is for wimps»? Falsch, kein Lunch ist für Schwächlinge. Hier haben Sie’s zuerst gelesen.
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Wunderbar geschrieben, mit einem schönen Twist am Ende, fabelhaft. Nebenbei: Auch der Bericht über Balthus‘ Riesen-Chalet und seine Witwe war phantastisch, vielen Dank!