MEIN MODERNES LEBEN
«Modern Life Is Rubbish» hiess das zweite Album von Blur. Davon abgesehen spricht die Zeile Ihrem Kolumnisten aus dem Herzen.
Heute eine weitere Folge meiner losen Kolumnenreihe mit Namen «Erkenntnisse aus der Populärkultur»: «Modern Life Is Rubbish», das moderne Leben ist Mist. So hiess das zweite, auf Wikipedia als stilbildend beschriebene Album der britischen Popgruppe Blur von 1993 sowie eine der ersten Veröffentlichungen des Genres Britpop.
Die Zeile spricht mir aus dem Herzen. Obwohl man Dinge auseinanderhalten muss, schon klar. Vergangene Woche zum Beispiel erlitt Ihr Kolumnist fast eine Blutvergiftung – Gründe waren eine bakterielle Infektion nach einer schiefgegangenen podologischen Behandlung plus ein zeitnaher Lauf durch die Laaxer Berglandschaft –, so schnell kann’s gehen. Zum Glück gibt’s Penicilline im modernenLeben ...
Genug auseinandergehalten, als Kolumnist soll man vereinfachen und übertreiben (steht im «Style Guide» des Economist, einer britischen Zeitschrift). Es gibt moderne Dinge, die das Leben erleichtern, einverstanden. Allerdings nur, solange diese funktionieren. Funktioniert etwas nicht mehr (und es funktioniert immer mehr nicht mehr, weil die Qualität laufend abnimmt, finde ich), wird man an den Wahrheitsgehalt des Satzes «Ein Unglück kommt selten allein» erinnert. Abgesehen davon, dass etwas kaputtgegangen ist, muss man danach durch die «Servicewüste», wie man sagt, beziehungsweise die «Helpline-Hölle» (Copyright: MvH).
Wie bei den meisten Leserinnen und Lesern gibt’s auch bei uns zu Hause ein «Entertainment System», von Blue TV – keine Sexfilme, sondern der komische neue Name des Swisscom-Fernsehangebots – über Netflix bis Sonos. Damit, was genau nicht funktioniert, langweile ich Sie nicht. Das haben Bambi und/oder ich bereits «Helpline»-Mitarbeitern stundenlang erzählt. Erste eiserne «Helpline»-Regel, so sieht’s aus: Schuld ist immer jemand anderes («Haben Sie schon mit Apple gesprochen?», «Das liegt wohl daran, dass zurzeit sehr viele Leute im Internet sind wegen Home-Office ... »). Und Regel Nr. 2: Nach einem «Helpline»-Eingriff ist möglicherweise ein Problem gelöst, oft wird dadurch aber ein neues geschaffen. Worauf alles wieder von vorne anfängt; «Zurzeit erreichen uns viele Anrufe», gefolgt von «Bestätigen Sie bitte zur Sicherheit Ihre Adresse» sowie «Haben Sie sämtliche Geräte neu gestartet?». Das Beste folgt zum Schluss, nachdem einem mehrheitlich nicht geholfen werden konnte: «Kann ich Ihnen heute noch mit etwas anderem helfen?»
Erste eiserne «Helpline»-Regel, so sieht’s aus: Schuld ist immer jemand anderes.
Weitere Einträge auf meiner rubbish list verdienen Versicherungs- und Fluggesellschaften. Jüngst wurde uns die Auto-Police gekündigt, ohne Vorwarnung. Auf Nachfrage erfuhr ich, weshalb – drei Schadenfälle innert fünf Jahren. Ich erinnere mich an die Anfänge meiner Laufbahn – bei einer Versicherung, tatsächlich – und das Bonmot des Branchenkunde-Lehrers: «Tritt ein Schadenfall ein, erlischt die Police automatisch.» Aus dem kleinen Witz der 1980er Jahre wurde eine Realität von heute. Airlines; wer schon mal versucht hat, ihm zustehendes Geld zurückzuholen oder einen Flug, den er wirklich will, mittels Prämienmeilen zu bezahlen, weiss, worüber ich klage ... (MvH bemüht sich, keine Schadenfreude aufkommen zu lassen, doch falls die Covid-19-Folgen Fluggesellschafts-Chefs, mehrheitlich Staatsangestellte, übrigens, ein bisschen demütig machen, hat die Pandemie auch was Erfreuliches.)
Nicht bloss Dienstleister, auch Hersteller geben ab (oder sogar auf), was die Güte ihrer Waren angeht. Zum Beispiel eine Schweizer Wäschemarke, deren Erzeugnisse ich seit mehr als zwanzig Jahren drunter trage. Jüngst gekaufte Shirts – fast hundert Franken das Stück – waren nach sechs Monaten bereits so formlos, dass sie noch zum Schuheputzen brauchbar waren. Die Verkäuferin belehrte mich darauf über Waschmittel – «Ach, Sie verwenden Bio- Produkte? Ja, die schaden dem feinen Gewebe». Vom Hersteller kam keine Entschuldigung (von Ersatz gar nicht zu reden), stattdessen ein Angebot für zehn Prozent Rabatt beim nächsten Einkauf.
«Modern Life Is Rubbish», nebenbei erwähnt, sei ein Graffito in London gewesen, wurde Blur-Sänger/Songschreiber Damon Albarn wiedergegeben. Das macht Mut (und sorgt dafür, dass dieser Artikel nicht sauer endet). Eine Wandmalerei beim Zürcher Hauptbahnhof sagte voraus: «Alles wird gut.»
Dieser Artikel erschien in der Weltwoche vom 22. April 2021.