Mein Querulant
Sartre schrieb: «Die Hölle, das sind die anderen.» Ob er auch Stockwerkeigentümer war?
Frühling ist eine schöne Zeit, finde ich. Es gibt vieles, was im März, April, Mai ansteht, worauf man sich freuen kann – vor allem dieses Jahr, in dem bereits früh warme Temperaturen herrschten, und wenn möglicherweise bald Restaurants und andere besuchenswerte Lokale wieder öffnen. Was in diesem Frühjahr voraussichtlich ausfallen dürfte, ist die ordentliche Versammlung der Stockwerkeigentümergemeinschaft (STWEG).
Das ist ein kleiner Verlust im besten Fall respektive ein grosser Gewinn im weniger guten Fall. Ihr Kolumnist erlebt beide Fälle in zwei STWEG; als Revisor schlägt er sich etwa mit Schneeräum-Rechnungen von Facility-Management-Anbietern, vulgo Hauswarten, herum oder prüft Energie-360g-Gaszählerstände (früher Erdgas Zürich – was gut zu wissen ist, wenn man in älteren Ordnern wühlt).
Im Grunde ist solches aber easy; schwierig kann’s werden je nach Zusammensetzung der STWEG, in der ein Mitglied manchmal über wenig Gemeinsinn verfügt. Oder wie Sartre in «Geschlossene Gesellschaft» schrieb: «L’enfer, c’est les autres» («Die Hölle, das sind die anderen»; ob er auch Stockwerkeigentümer war?). Ein Bekannter jedenfalls, der jüngst seine Eigentumswohnung verkaufte wegen eines Miteigentümers und -bewohners, hat mir die Schrift «Der Querulant im Stockwerkeigentum: Wie geht man mit ihm um?» von Amédéo Wermelinger gesandt.
Die gute Nachricht, auf die ich darin stiess: Oft werde schon einer als Querulant bezeichnet, der bloss ein unangenehmer Stockwerkeigentümer sei. Damit sei keine psychiatrische Einschätzung verbunden, sondern nur eine sprachliche Verkürzung. Mit anderen Worten, es besteht Hoffnung, dass in unserer STWEG (und denkbarerweise auch in Ihrer) lediglich ein Rechthaber oder Nörgler sitzt.
Liegen aber mehrere der folgenden Merkmale vor, schreibt Rechtsanwalt Wermelinger, könnte man es mit einem zu tun haben, der ein Krankheitsbild aufweist, nicht nur mit einem Stürmisiech: überhöhtes Selbstwertgefühl, narzisstische Züge, Toleranz und Frustrationsfähigkeit in geringem Mass, Intelligenz sowie Kenntnis des Rechts, Neigung zu Groll und Humorlosigkeit, ausserdem zu Misstrauen bis zur Verschwörung, Verlust der Angemessenheit und des Sinnes für das Wesentliche und, endlich, übersteigerte Argumentations- oder Schreibwut.
Ein möglicher Grund liegt laut Autor, der in seiner Praxis mit Querulanten als Gegenpartei, aber auch, nolens volens, Klienten zu tun habe, im Nichterreichen der als legitim empfundenen beruflichen Erfüllung. Zwar gehören Querulanten mit Stockwerkeigentum der mittleren bis oberen sozialen Schicht an. Sie haben jedoch oft das Gefühl, zu noch Höherem berufen zu sein, was ihnen – nach ihrer Wahrnehmung nicht eigenverschuldet – verwehrt geblieben ist. Und noch das: Querulanz trete meist erst ab ungefähr vierzig Altersjahren ein, wenn langsam klarwerde, dass Anspruch und Realität auseinanderklafften (in der Regel sind Männer davon betroffen, natürlich).
Querulanz trete meist erst ab ungefähr vierzig Altersjahren ein, wenn langsam klarwerde, dass Anspruch und Realität auseinanderklafften
Das Lesen des Papiers ist interessant, kurzweilig und tröstlich – man lernt, dass man nicht allein ist. Aber auch ein wenig niederdrückend, da hoffnungslos. Der Querulant, verkürzt, hat eine andere Ausgangslage als normale Menschen /die Mitbesitzer: Er will nicht die beste Lösung für die STWEG, sondern, falls überhaupt, seine Lösung; recht bekommen ist ihm wichtiger als recht haben. Respektive er will nur streiten – das Gstürm ist das Ziel. Weshalb das Augenmerk nicht darauf gelegt werden könne, wie man einen Querulanten verbessert. Vielmehr darauf, was zu unternehmen ist, dass durch das negative Verhalten eines Einzelnen nicht die Verwaltung lahmgelegt wird. Dazu ein Ratschlag aus der Psychiatrie: Besonders wichtig sei, den querulatorischen Tendenzen des Betroffenen nicht durch unsachgemässe Reaktionen zusätzliche Nahrung zu geben. Stattdessen einen möglichst gesichtswahrenden Ausgang aus der Situation zu finden.
Das heisst für uns dann wohl: Die STWEG verliert den Zivilprozess gegen den Querulanten im Haus (Streitwert = niedriger dreistelliger Betrag, Anwalts- und Gerichtskosten bisher = mittlerer vierstelliger Betrag). Und sollte sich bereitmachen für den nächsten Fall.
Dieser Artikel erschien in der Weltwoche vom 11. März 2021.