Meine Gentrifizierung
Was der Blick Ihres Kolumnisten aus seinem Fenster für «unbequeme Wahrheiten» zulässt.
Heute handelt diese Spalte wieder von Vorgängen, die closer to home stattfinden. Nachdem Ihr Kolumnist vergangene Woche einen Ausflug in unendliche Weiten, den Weltraum, unternommen hatte.
Die Balgriststrasse in Riesbach im Zürcher Kreis 8 geht von der Forchstrasse ab, das Ende der Sackgasse liegt zweihundert Meter oder so leicht erhöht oberhalb des Wehrenbachs; dort wurden vor einigen Jahren zwei Einfamilienhäuser abgerissen und dann ein schickes, mittelgrosses Mehrfamilienhaus gebaut. Es handelte sich dabei um das erste neue Gebäude, das in der Strasse seit Jahrzehnten erstellt worden war. Die restlichen Immobilien sind aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
Das, was geschieht, wenn in einer gewöhnlichen Strasse in einem normalen Viertel einer zum Wohnen stark nachgefragten Stadt ein Neubau aufgestellt wird, der über den bisher geltenden Standards liegt, nennt man «Gentrifizierung» (von englisch gentry, niederer Adel). Dann passt’s natürlich, wenn in der Folge ein van Huisseling hinzieht, weil viele Leute meinen, es müsse sich bei ihm um einen Nachfahren niedrigen niederländischen Adels mit diesem Namen handeln (was leider nicht der Fall ist). Davon abgesehen sollte man über Gentrifizierung streng urteilen, so die vorherrschende Meinung, da die «Attraktivitätssteigerung eines Viertels respektive der anschliessende Zuzug zahlungskräftigerer Eigentümer und Mieter mit dem Austausch ganzer Bevölkerungsgruppen verbunden ist» (Wikipedia). Und Veränderung ja grundsätzlich schlecht ist, nicht wahr?
In den vergangenen sieben Jahren, seit early mover MvH sich am Ende der Strasse niedergelassen hat, ist einiges gegangen: Zwei weitere Neubauten entstanden, ein Mehrfamilien-Miethaus am oberen Ende des mittleren Preisbands (3500 Franken oder so inkl. Nebenkosten im Monat für 4 Zimmer / 100 Quadratmeter) plus eines mit vergleichbaren Eckpunkten, bloss Eigentumswohnungen (zirka 1,1 Millionen Franken für ein Objekt wie beschrieben).
Im Gegensatz zur Voraussage auf der an sich unverdächtigen, da wertfreien Wikipedia-Plattform hat der Austausch ganzer Bevölkerungsgruppen (noch) nicht stattgefunden. Weshalb der Blick aus dem Fenster Ihres Kolumnisten – richtig, dasjenige, aus welchem er über Minarett und Kirchturm auf Prime Tower und Üetliberg sieht – soziologische Erkenntnisse zulässt: Morgens um 6.15 Uhr brennt in den siebzigjährigen Häusern in der Regel noch nirgends Licht. Wer Niedrigmieten zahlt (unter 2000 Franken für 3 Zimmer), schläft dafür aus, könnte eine interessante, wenn auch «unbequeme Wahrheit» (Roger Scruton) lauten.
In den mittelpreisigen Neubauten dagegen scheint dann bei rund einem Drittel der Bewohner der produktive Tag schon angefangen zu haben. Und in unserem Haus, am High End der Strasse – wenn auch weit unter den Verhältnissen am oberen Ende des Markts im nahen Zollikon etwa, wo Bestverdiener wohnen, die für schlecht laufende Grossbanken et cetera arbeiten –, ist die Mehrheit der Bewohner bereit zur Leistungserbringung (tatsächlich, ich bin frühmorgens nach draussen gegangen, um die «Licht brennt»-Quote zu erheben).
Wer Niedrigmieten zahlt, schläft dafür aus, könnte eine «unbequeme Wahrheit» lauten.
Politisch noch unkorrekter und somit cancel culture- oder wokeness-mässig noch angreifbarer verrate ich die Nationalitäten/Herkunft der Anwohner: In unserem Haus sind’s Schweizer, Deutsche oder Russen. In den anderen Neubauten mehrheitlich Schweizer, ein paar Australier (Eigentümer) respektive Spanier sowie Türken (Mieter). In den Günstig-Mietliegenschaften Schweizer im Rentenalter, mittelalte Portugiesen und jüngere Menschen aus Sri Lanka. Vor letztgenannten Gebäuden, nebenbei erwähnt, entstehen oft Haufen aus runtergerocktem Mobiliar und kaputten Haushaltsgeräten, meist versehen mit auf Zettel gekritzelten, schwer ernstzunehmenden Hinweisen «zum mitnehmen» oder «gratis» (wo ist die SVP Wahlkreis Zürich, Stadtkreise 7 und 8, oder wenigstens Mauro Tuena, wenn man ihn braucht?).
Mehr zu pros and cons dieses grossen Gebiets gibt’s im Film «Die Gentrifizierung bin ich – Beichte eines Finsterlings» von Thomas Haemmerli, mit dem ich befreundet bin, oder im Roman «Capital» von John Lanchester.
Dieser Artikel erschien in der Weltwoche vom 18. Feb. 2021