MEINE HOME-OFFICE-LÜGE
Zu Hause sei man produktiver, sagt die Mehrheit – Ihr Kolumnist sagt dem «blinder Fleck».
Zurzeit erreichen die Zeilen Ihres Kolumnisten viele Leser im Home-Office, nimmt dieser an. Woraus sich schlussfolgern liesse, nicht bloss er wird fürs Schreiben bezahlt, sondern auch Leser bekommen Geld dafür, dass sie sich seine Texte antun.
Für mich ist das in Ordnung. Für Arbeitgeberinnen meines geschätzten Publikums weniger, darf man annehmen. Dies natürlich im Bewusstsein, dass MvH ein kleiner Fisch beziehungsweise money waster, Verbrenner fremden Gelds, ist. Das Lesen dieser Spalte während der Arbeitszeit wird im Schnitt mit Fr. 3.20 entlöhnt (Annahme: drei Minuten Lesedauer, 130 000 Franken Jahressalär). Ich habe aber auch angestellte Gut- sowie Topverdiener, da reden wir dann schon mal von 30 bis 100 Franken Lesekosten für Firmen respektive Aktionäre.
Doch möglicherweise liege ich falsch. 80 bis 90 Prozent der Arbeitnehmer schätzen nämlich ihre Effizienz im Home-Office als gleich hoch oder höher ein wie/als im Büro in Geschäftsräumlichkeiten (Quellen: Neue Zürcher Zeitungbeziehungsweise Untersuchung von Bearing Point, einem Beratungsunternehmen, von Juni 2020). Die grosse Mehrheit liest MvH also nicht während der Arbeitszeit (oder hat dies schon früher getan).
Obige Aussagen fussen auf Selbsteinschätzungen. Fremdeinschätzungen sind schwierig zu finden; die Recherche «‹Home-Office› AND ‹Effizienz›» in der Schweizer Mediendatenbank lieferte keine entsprechenden Studien oder Papers. Arbeitgebervertreter-Aussagen allerdings bekommt man: «Da waren wir immer dagegen» (Swissmem-Präsident Martin Hirzel über Home-Office-Pflicht) oder «Man kann Mitarbeiter im Home-Office nicht kontrollieren» (Petra von Strombeck, Chefin der Xing-Muttergesellschaft New Work).
Das Lesen dieser Spalte während der Arbeitszeit wird im Schnitt mit Fr. 3.20 entlöhnt
Der Unterschied zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung wird «blinder Fleck» genannt. Eine Bekannte (Single, Ende vierzig) sitzt seit vergangenem Jahr auf Teneriffa im «Home-Office». Weil’s dort lässig ist. Und das Wetter besser. Für den Arbeitgeber, so sieht’s aus, ist das okay. Ein Bekannter (verheiratet, um die vierzig, ein kleines Kind) verbrachte Monate in Süditalien, mit Familie, weil’s dort lässig ist. Und . . . Der Entwurf ist klar, denke ich. Beide, nebenbei erwähnt, behaupten, für ihre Arbeitsproduktivität spiele es keine Rolle, ob sie remote oder im Büro wie früher im Einsatz seien.
Ihr Kolumnist, mit Respekt, neigt zu Zweifeln. Er ist zwar nicht der Meinung, Home-Office sei eine grundsätzlich unnütze Massnahme (wie etwa der Restaurant-Shutdown), was die Covid-19-Lage angeht. Nein, er versteht die zugrundeliegende Überlegung, schliesslich hält man sich im Büro möglicherweise stundenlang in nächster Nähe vieler fremder Leute auf. Aber die Gleich-hohe-oder-höhere-Effizienz-Beteuerung ist eine andere Geschichte – eine falsche in seinen Augen.
MvH, nebenbei erwähnt, arbeitete von 1998 bis 2018 im Home-Office, vor knapp drei Jahren bezog er, familiär bedingt (kleiner Sohn, teilweise zu Hause betreut) ein Auswärts-Office. In diesen 23 Jahren bin ich zur Einsicht gekommen, Home-Office funktioniert für a) Selbständige b) Arbeitnehmerinnen und -nehmer mit prüf- und/oder bewertbaren Aufgaben sowie idealerweise regelmässigen Deadlines plus c) aussergewöhnlich Einsatzfreudige/Aufrichtige. Der Rest der arbeitenden Bevölkerung, möglicherweise zwei Drittel oder so, unterperformt wahrscheinlich, wenn von zu Hause aus gearbeitet wird. Weil es immer etwas gibt, was man noch rasch erledigen muss, bevor man den nächsten Geschäfts-Task angeht. Oder, mit anderen Worten, weil das des Menschen Natur ist. Überschriften wie «Bei der Swisscom will kaum jemand aufs Home-Office verzichten» (Handelszeitung) oder «Adieu, liebes Büro!» (NZZ) versteht MvH als schlechte Nachrichten respektive Voraussagen, die Angst machen. Nicht, dass er etwas gegen den Einklang von Privat- und Arbeitsleben hätte, dieser ist wichtig – zumindest in einer idealen, wunderbaren Welt.
In der realen, unbequemen Welt aber verordnen die Entscheidungsträger unserer schärfsten Mitbewerber-Länder ihren Einwohnern keine Home-Office-Pflicht. Und die Work-Life-Balance ist ihnen auch egal. Mit anderen Worten: Dort ist die Effizienz höher.
Dieser Artikel erschien in der Weltwoche vom 25. März 2021.
...treffend und subtil formuliert. musste schmunzeln... danke für diesen beitrag ! iria degen