MEINE MUTATION
Warum sich das Bild Ihres Kolumnisten von seinen Mitmenschen sowie der politischen Führung unseres Lands verdunkelt hat.
Persönlich bin ich der Ansicht, Jahrestage seien unnötige Aufhänger für eine Berichterstattung, wie Leserinnen und Leser sich möglicherweise erinnern. Dennoch ergreife ich die Gelegenheit und erzähle von meinem zurückliegenden Pandemiejahr beziehungsweise von MvHs wichtigsten Erkenntnissen daraus.
Auf den ersten Blick hat sich im Alltag Ihres Kolumnisten nicht viel verändert in dieser Zeit: Er verschiebt sich weiter werktäglich in sein Büro im Zürcher Seefeld, wo er in der Regel von morgens bis abends alleine am Schreibtisch sitzt (Bambi benutzt ein Zimmer des gemeinsam bewohnten Zuhauses als Home- Office, unser kleiner Sohn verbringt wöchentlich mehrere Tage in der Kita, die glücklicherweise offenblieb, da systemrelevant). Seit einiger Zeit nehme ich das Mittagessen – von einem der umliegenden Restaurants mit Take- away-Angebot – ebenfalls dort ein. Und für den Weg an den Arbeitsplatz benutze ich grösstmehrheitlich den öffentlichen Verkehr.
An Covid-19 erkrankt bin ich bisher nicht. Wie meine Familienmitglieder plus die meisten Freunde und Bekannte; ich kenne mittlerweile immerhin den einen oder die andere, die vom Virus befallen wurden, darunter einen, dem es eine Woche echt schlecht gegangen sei.
So weit, so ereignisarm. Wo allerdings eine Mutation stattgefunden hat, das ist bei meiner Wahrnehmung a) der Menschheit – oder, besser, der «Mitmenschen», weil das ein bisschen weniger pomphaft klingt – sowie b) der politischen Führung unseres Lands (besonders der sogenannten Exekutive, also des Bundesrats) plus der Verantwortlichen der für Pandemiebekämpfung zuständigen Bundesämter. Zwar waren mir die Mitglieder dieser Gruppen bereits zuvor nicht im hellsten Licht erschienen, doch in der Zwischenzeit hat sich mein Bild von ihnen nochmals deutlich verdunkelt.
Zu a): Was lief schief bei Corona-Lügnern oder -Skeptikern – von Bäumeumarmern über Anthroposophen, Esoteriker, Verschwörungsgläubige bis zu Rechtsbürgerlichen, Reaktionären und noch Beknackteren –, Impfverweigerern beziehungsweise ihren Gegenspielern, Impfdränglern also, Masken- Nichtträgern respektive «Wir geben uns die Hand, nicht wahr?»-Nervensägen? Oh, dear ... Man kommt als normalintelligenter, einigermassen informierter und/oder denkender Mensch nicht mehr umhin, den Begriff «Schwarmintelligenz» aus seinem Wortschatz zu streichen. Aber nicht ersatzlos, sondern zugunsten von «Schwarmdummheit»; das trifft es besser.
Ein Unglück kommt selten allein, sagt man. Womit wir bei den unter b) aufgezählten Entscheidträgern angelangt wären. Zu Anfang der Seuche war ihre Leistung in Ordnung, denke ich. Sie schwammen in unchartered waters, unerforschten Gewässern, die Datenlage war dünn damals. Und sie handelten wohlmeinend (abgesehen von der Behauptung wider besseren Wissens, Schutzmasken würden es nicht bringen, einzig weil solche nicht vorhanden waren).
Der Begriff «Schwarmintelligenz» ist aus dem Wortschatz zu streichen. Zugunsten von «Schwarmdummheit».
Doch von da an ging’s bergab: Dass die Verantwortlichen das Zur-Verfügung-Stellen von ausreichenden Testmöglichkeiten für alle dazu Bereiten die längste Zeit nicht hinbekommen haben, ist schwach. Sowie unserem kleinen, wohlorganisierten, reichen Land mit seiner belastbaren Grundeinrichtung / seinem bestausgebauten Versorgungsnetz nicht würdig. Das war die gute Nachricht. Noch schlimmer sieht’s dort aus, wo’s um alles geht, leider – beim zeitnahen Durchimpfen der Bevölkerung nämlich. Das Versagen der zuständigen Leute bei der Beschaffung beziehungsweise Zulassung und Bereitstellung von ausreichend respektive dem richtigen Impfstoff bisher unterbiet alles.
Oder wie der Leitartikler der Neuen Zürcher Zeitung kommentierte: «Grossbritannien, Israel und Amerika glänzen mit ihrer Impfkampagne, die der Schweiz gleicht einer Groteske.» Die Pandemie halte jedem Land den Spiegel vor. Manche handelten wie Unternehmer, andere wie Bürokraten.
Trotz allem, so sieht’s aus, gibt es jetzt Licht am Ende des Tunnels. Und es dürfte vom Sonnenaufgang kommen, nicht von einem entgegenfahrenden Zug. Bis Ende Juli (oder August, September ...) sollte geimpft sein, wer will. Und wer sich bis dorthin ansteckt, findet Platz in einem nicht ausgelasteten Intensivpflegebett, wo er von Top-Ärzten behandelt wird. Nicht von Chefbeamtinnen oder Spitzenpolitikern.
Dieser Artikel erschien in der Weltwoche vom 8. April 2021.