MvH, UNWÜRDIG
Sind Antworten auf Styler-Fragen – «Darf man das?» und «Wie sehen Sie denn aus?» – wichtig?
Vor einiger Zeit spazierte ich mit einem Freund durch den Berliner Stadtteil Charlottenburg, wo er damals lebte. Plötzlich sagte er: «Das mache ich ganz oft.» Ich wusste nicht, wovon er sprach. Bis er auf einen Elektro-Tretroller – wie die Fahrzeuge in Deutschland heissen – zeigte, der auf dem Platz stand, über den wir gerade gingen. «Interessant», erwiderte ich. Und dachte: Ehrlich? Ich auch.
Was daran interessant sein soll? Mein Freund ist seit zwanzig Jahren ein Style-Leader (vermutlich war er schon während seiner davorliegenden 45 Jahre einer, doch damals kannte ich ihn noch nicht). MvH wiederum hat in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls reichlich Energie und Zeit damit verbraten, Antworten auf die Frage, ob etwas cool sei, zu liefern, wie Leserinnen und Lesern möglicherweise bekannt ist. «Wie sehen Sie denn aus?» war die längste Zeit so was wie sein unterliegendes Lebensgefühl (plus der Name einer Zeitschriftenspalte, die mein Freund miterfunden hat).
Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass erwachsene Menschen auf E-Trottinetten nicht cool sind und auch nicht gut aussehen. Es fehlt dem Gefährt respektive seinem Benutzer an Würde, wie Elon Musk in einem Gespräch mit der Journalistin Kara Swisher sagte («It lacks dignity»). Und im Tages-Anzeiger wurde ein in Stilfragen bewanderter Zürcher Autor wie folgt wiedergegeben: «Elektrotrottinette sind eine praktische Sache. Das ist die gute Nachricht. Die weniger gute: Praktisch ist das Gegenteil von sexy. Man sollte, falls man älter ist als acht Jahre, grundsätzlich nicht mehr Trottinett fahren. Ausser man arbeitet auf einem Flugzeugträger oder in einem Lagerhaus von Amazon.» Der «in Stilfragen bewanderte Zürcher Autor» war, nebenbei erwähnt, Ihr Kolumnist (liest «Technoking» Musk, so der neue Titel des Tesla-Gründers, den Tagi? Vielleicht ist’s bloss ein Fall von «All great minds think alike», alle grossen Geister denken gleich).
Die Einschätzungen sind ungefähr zwei Jahre alt. Genug Zeit also, die Meinung zu ändern – und, in meinem Fall zumindest, E- Trottinette zu nutzen. In Zürich ist die Dichte sogenannter Sharing-Scooter, die man mietet beziehungsweise mit anderen Leuten teilt, hoch: Es gibt fast 4000 Fahrzeuge und somit über acht Exemplare für tausend Einwohner, bis viermal mehr also als in anderen untersuchten Städten Europas (Stand: Ende 2020, Quelle: Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften). Ich nehme einen Elektroroller beispielsweise abends und an Feiertagen, wenn mir das Warten aufs nächste Tram – elf Minuten – zu lange dauert, manchmal auch für einen Take-away-Espresso vom nahen Café (Preis meines Scooter-Anbieters: ein Franken Grundgebühr plus rund einen Franken je Fahrminute, also im Schnitt drei Stutz für einen ride. Die meisten Betreiberfirmen, Start-up-Unternehmen in der Regel, verlieren Geld wegen hoher Kosten für Wartung/Einsammeln der Geräte).
Aber es ist, um’s mit den Worten der Deichkind-Mitglieder zu sagen, «leider geil».
Damit wir uns richtig verstehen: Das Bild, das man als mittelalter Mann auf einem E- Trottinett abgibt, ist kein würdiges, da haben Musk und (der alte) Mark schon recht. Man bewegt sich stiltechnisch einen Tick über dem Segway oder anderen Elektro-Stehrollern, also weit unten. Aber es ist, um’s mit den Worten der Mitglieder von Deichkind, einer Hamburger Hip-Hop-Formation, zu sagen «leider geil». Irgendwie macht’s Spass und verbreitet ein urban feeling, auf einem solchen Ding mit 20 km/h lautlos durch die Stadt zu fahren.
Zurück zu den styler-Fragen, «Darf man das?» und «Wie sehen Sie denn aus?». Ich bediene mich einer Antwort, die ich in anderem Zusammenhang vor Jahren vom inzwischen verstorbenen Anwalt Sigmund «Sigi» Feigel, bekommen habe: «Ich möchte Ihre Probleme und das Vermögen der Familie Rothschild» (oder, upgedated, der Familie Musk). Ist das noch reif respektive weise oder schon altersmilde?
Mein anfangs erwähnter Freund ist, nebenbei, bereits einen Schritt oder eine Trottinettlänge weiter – er ist aus dem angesagten West-Berlin nach Kaiserstuhl (im Sharing-Scooter-freien Kanton Aargau) gezogen. Oder wie Sven «Herr Lehmann» Regener textete: «Erst wenn alles scheissegal ist, macht das Leben wieder Spass.»
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Edle Selbsterkenntnis 😅 Witzig geschrieben, wie immer ein Vergnügen, zu lesen!