MvHs Januarblues
Wo ist das Wunderbare der Welt zurzeit? Man muss sich Mühe geben, um es zu finden, indeed.
Regelmässige Leser wissen es schon: Ihr Kolumnist ist kein Herbsttyp. Und bei dieser Gelegenheit eine News – auch der Januar ist sein Monat nicht. Wahrscheinlich geht es nicht bloss mir so, am ersten Arbeitstag dieses Jahres um 8.15 Uhr – kein Klischee, sondern ein Fakt – war das Tram, das ich wie immer benutzte, um in mein out-of-home office zu gelangen, leer wie meine E-Mail-Inbox in den vergangenen Tagen. Klar, wozu sollte man zurzeit das Haus verlassen, wenn man nicht unbedingt muss? Restaurants haben geschlossen beziehungsweise bieten bloss Take-away an, nicht mal Yoga- oder Fitnessstudios sind offen, sogar der Meditationskurs, den ich im Januar ab- solvieren wollte, wurde in den sogenannten virtuellen Raum verlegt. Und dann habe ich noch gar nicht vom Hochnebel geredet, der voraussichtlich bis Ende März auf die Stimmung in Zürich drücken wird wie ein Alb auf die Brust eines Schläfers.
Womit wir zur guten Nachricht gelangen: Es kann nur besser kommen – und es wird. Pandemiemässig werden Impfungen, die ab sofort (oder jedenfalls schon bald) überall, wo es sich die Länder respektive Menschen leisten können, im grossen Stil stattfinden werden, die Lage nachhaltig verbessern. Wie bitte, Sie haben gelesen, die Schweizer Corona-Impfkampagne starte mit Problemen, weil es «an Stoff mangelt» (NZZ am Sonntag)? Mag sein, aber warten Sie einen Augenblick. Und vergessen Sie in dieser Zeit nicht: Journalistinnen und Journalisten lieben scheinbar schreckliche Lagen. Weniger weil sich bad news besser verkaufen (so denken Verleger), sondern mehr, weil man sich als Überbringer schlechter Nachrichten wichtiger vorkommt (MvH weiss, wovon er schreibt). Das big picture, das grosse Ganze, präsentiert sich also eigentlich in hellem Licht. Im Frühling, der bestimmt kommt, dürfte das Leben wieder normal und somit gut sein. Doch die drängende Frage zurzeit lautet: Wie verbringt man die Tage bis dorthin angenehm und idealerweise sinnstiftend? Die ehrliche Antwort: Keine Ahnung, ich bin Kolumnist, nicht Lebensberater. Und als solcher zuständig für Eskapismus, kleine Fluchten.
Ich höre werktäglich (ausser dienstags, dann bin ich ganz Ohr für meinen Kleinen) die «The Do!! You!!! Breakfast Show» auf NTS Radio, dem Londoner Online-Sender/der Medienplattform. Einverstanden, die Schreibweise mit den vielen Ausrufzeichen ist unreif; empfehlenswert hingegen sind die Moderation (hilarious, urkomisch) und die Musikauswahl (breit, richtig breit) von Charlie Bones. Mittwochs ist Jukebox, dann dürfen, besser: müssen Hörer ein Lied, das sie wünschen, zuerst selbst singen (das ist vielleicht auch Ihre Chance). Die Zeit, sagt man, vergeht wie im Flug, wenn man Spass hat, und das hat man von 10 Uhr bis zum (Take-away-) Mittagessen um 13 Uhr. Lange Nachmittage verkürzt die sieben Stunden dreissig Minuten dauernde Spotify-Playlist «S/FJ: 2020» von Sasha Frere- Jones, dem früheren Musikkritiker des New Yorker; die 104 Stücke fassen das vergangene Musikjahr gut zusammen.
Zurzeit schaue ich mir «Teheran» an, eine achtteilige Spionageserie, die etwa auf Apple TV+ erhältlich ist, und empfehle sie. Falls jemand nun einwendet «Hab ich längst gesehen, ist alt» oder so, erwidere ich: Man sollte a) nur abends und b) nicht täglich, sondern höchstens jeden zweiten Abend das tun, was man früher «fernsehen» nannte – die Partnerin/der Partner, falls man eine(n) hat, verdankt es einem möglicherweise; da bin ich konservativ. Darum und weil man sozusagen nie mehr einen trifft, der die gleichen Serien schaut, spielt’s keine Rolle, dass die Folgen in Israel bereits im Juni 2020 und auf Apple TV+ ab September gezeigt wurden.
Die Abende dazwischen nutze ich zum – Romane lesen. Die drei letzten: «The Glass Hotel», «Utopia Avenue» und «Blacktop Wasteland». Den erstgenannten, von Emily St. John Mandel, über die unübliche Trophäenfrau eines Finanzbetrügers fand ich überraschend und originell; den dritten, einen Krimi/Thriller von S. A. Cosby, nicht überraschend und unoriginell, superspannend und lesenswert dennoch. «Utopia Avenue» von David Mitchell schliesslich, in dem es um den Aufstieg einer Band in London und New York Ende der 1960er Jahre geht, fand ich so dünn, gesucht und schlecht, dass mich bloss die Hoffnung beim Buch hielt, der Autor von «Cloud Atlas» werde die Kurve noch kriegen und die Story mirakulös irgendwie retten (er tat es nicht).
Morgen fahre ich wieder nach Laax, nebenbei erwähnt. Dort ist man dem blauen Himmel näher.
Dieser Artikel erschien in der Weltwoche vom 14. Jan. 2021