MvHs MENTALE GESUNDHEIT
«Gring ache u seckle» (Copyright: Anita Weyermann) war gestern. Heute ist stark angeblich, wer Schwäche zeigt. Und dennoch – oder darum – am meisten verdient.
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Antworten, die Sportler geben, können einen in ein Loch stossen. Weil sie oft kurz und nichtssagend sind, manchmal auch nichtssagend, aber mit vielen, teilweise falsch verwendeten Wörtern daherkommen und für Langeweile sorgen. Eine Journalisten-Faustregel ist: «If you can’t be funny, be interesting»; Athleten lernen von ihrem Medientrainer eine gegenteilige Lektion, «Sage nichts Lustiges und versuche nicht, interessant zu sein», so sieht’s aus.
Ihr Kolumnist hat auch schon Athleten befragt. Usain Bolt etwa, den Sprinter: «Planst du viel, hast du noch Ziele?» (Sportler darf man duzen, egal, ob man sich zum ersten Mal begegnet). «Nein, nicht besonders viel. I’m a chilled person, you know», sagte er. Oder Samuel Eto’o, den «Wunderstürmer vom FC Barcelona» (Blick) aus Kamerun: «Was denkst du, bevor du einen Elfmeter trittst?» – «Das Tor zu treffen.» – «Und wenn du danebenschiesst?» – «Das kann passieren.» (Zeitgleich schrieb er eine Textbotschaft auf seinem Mobiltelefon unter dem Tisch; und bevor ich ins Zimmer durfte, teilte mir eine Mitarbeiterin seines Sponsors mit: «Sie haben sieben Minuten, fragen Sie was über Afrika.»)
Verglichen damit führte ich mit Roger Federer ein Tiefeninterview, es dauerte fast eine halbe Stunde. «Welches ist das beste Buch, das du dieses Jahr gelesen hast?» (Es war November.) «Ich lese nichts, eigentlich, haha.» Weiter: «Wie wichtig ist Treue für dich?» – «Meinst du gegenüber meiner Freundin?» (November 2004, um genau zu sein.) «Ja, zum Beispiel.» – «Das ist mir absolut wichtig.»
Doch jüngst hat MvH gelernt, dass Sportlergespräche nicht bloss dem Fragesteller Schmerzen bereiten können. Sie habe zu oft mitansehen müssen, wie Spielerinnen während Medienkonferenzen zusammenbrachen und das Podium unter Tränen verliessen, sagte Naomi Osaka, die japanische Tennisspielerin aus Amerika (Nummer zwei der Weltrangliste); der Vorgang fühle sich an, wie wenn «eine Person getreten wird, die am Boden liegt» (Quelle: New York Times, NYT).
Weshalb sie vor dem French Open Anfang Monat ankündigte, an keiner Medienkonferenz während des Turniers teilzunehmen («zum Schutz meiner mentalen Gesundheit»). Nur Tage später teilte sie mit, sich von dem Wettkampf zurückzuziehen: «Ich denke, es ist für das Turnier, die anderen Spieler und auch mich selbst das Beste...»
So was kommt nicht an, meint man, als Beobachter, der sich an die weltumfassende Sportlerinnen- und Sportlerhaltung «Du gehst auf den Platz und gibst 110 Prozent» erinnert oder an die berndeutsche Version «Gring ache u seckle» (Copyright: Anita Weyermann). Doch es kommt erstens anders und zweitens als man denkt (als mittelalter Mann): «Unglaublich mutig», findet das Billie Jean King, die ehemalige amerikanische Tennisspielerin. Oder «Ein Power Move – und dass er von einer jungen Frau of color kommt, macht ihn noch kräftiger», kommentiert eine Meinungsautorin der NYT.
Stärker als die härteste Rückhand – eine junge Frau of color «gibt zu», dass sie gegen Depressionen kämpfe.
Okay, so sehen es Billie Jean King, engagierte Kämpferin für Gleichberechtigung (Epochtimes.de), respektive die woke-NYT. Doch wo findet man die Stimme der Vernunft, wenn man eine braucht? Nicht in der Neuen Zürcher Zeitung – «Hilferuf einer Unverstandenen» war der Artikel dazu – von einem Mann – überschrieben.
Was die junge Sportlerin weiter sagte: «Ich würde den Begriff ‹mentale Gesundheit› nie trivialisieren und leichtfertig benützen. Die Wahrheit ist, dass ich seit dem US Open 2018 immer wieder mit Depressionen gekämpft habe.» Das ist natürlich stärker als die härteste beidhändige Rückhand – eine junge Frau of color «gibt zu», dass sie gegen Depressionen kämpfe. Wer darüber streng zu urteilen wagt, hat noch nie von politischer Korrektheit und deren Auswuchs, Cancel-Culture, Absage-/Löschkultur, gehört (oder schreibt für die Weltwoche).
Was Naomi Osaka beziehungsweise ihre Fanklub-Mitglieder zu erwähnen vergessen haben: Das System, zu dem der Medienbetrieb respektive seine angeblichen Fertigmacher-Konferenzen gehören, hat mit ermöglicht, dass die Tennisspielerin in den vergangenen zwölf Monaten 55 Millionen Dollar einnahm – nicht schlecht als «Schmerzensgeld», nicht wahr? – und bestbezahlte Sportlerin der Welt war. Oder wie Rafael Nadal sagte: «Viele von uns wären nicht die Athleten, die wir sind, ohne die Medien.»
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