MvHs Schlafzimmerblick
Was Ihr Kolumnist sieht, wenn er aus dem Fenster schaut, entwickelt sich in die falsche Richtung.
Die vergangene Woche verbrachte ich erneut in Laax, wo die Welt noch wunderbar aussieht: Eine kalte Nacht und einen Vormittag lang schneite es, der Rest der Zeit herrschte das, was unsere deutschen Freunde «Kaiserwetter» nennen. Zudem darf gegenwärtig wieder auf sonnigen Restaurantterrassen zu Mittag gegessen oder Espresso getrunken werden, nebenbei erwähnt, was die Lebensqualität weiter verbessert. Man erlebt in den Bündner Bergen zurzeit Highlife, wenigstens ein wenig.
Was einem recht scharfen Gegensatz zur Lage anderswo entspricht. Der Hochnebel hat beispielsweise Zürich, wie mehrheitlich zu dieser Jahreszeit leider, im Würgegriff, möchte man schreiben, wenn diese Metapher nicht in die Galerie der schiefhängenden Sprachbilder gehören würde. Abgesehen davon, dass Hochnebel zurzeit eher zu den guten oder jedenfalls harmlosen Nachrichten zählt, wenn man die Grosswetterlage betrachtet – die Pandemie macht vielen das Leben weiter schwer respektive beendet es für (auch bei uns langsam nicht mehr so) wenige. Und die Ereignisse des «Mittwochs der Schande» (MvH) aus der Hauptstadt der sogenannten freien Welt sorgen zusätzlich für schlechte Gefühle.
Mit anderen Worten: Es braucht ein schärferes Auge als auch schon, um Lebensbejahendes erkennen zu können. Und das schwarze Nein, das sich gegenwärtig vielerorts breitmacht, nicht ins Herz eindringen zu lassen. Doch, und das ist die gute Nachricht, manchmal reicht es bereits, den Blick über Alltägliches, scheinbar Gewöhnliches schweifen zu lassen, um etwas Gutes zu finden. Aus dem Wohnzimmer- oder WC-Fenster (kein Witz) der Casa MvH in Zürich Riesbach beispielsweise schaut man auf den Prime Tower und den Üetliberg (870 m ü. M.). Letzterer ist zwar nicht so erhaben wie der Piz Riein (2761 m ü. M.), der Piz Fess (2881) oder der Piz Signina (2840), die Ihr Kolumnist vor seinem Laaxer Schlafzimmerfenster hat, sorgt als Hausberg aber für Beheimatung wie auch das höchste Gebäude der Stadt, der Prime Tower eben (126 Meter/36 Stockwerke).
Was man zudem sieht: den Glockenturm der evangelisch-reformierten Kirche Balgrist plus gleich daneben Zürichs einziges Minarett (18 Meter). Dieses gehört zur Mahmud-Moschee; es handelt sich dabei um eines von bloss vier Minaretten in der Schweiz. Um die Moschee beziehungsweise das Baurecht dafür, das die Stadt der Ahmadiyya-Betreibergemeinschaft gewährt, ging es jüngst im Zürcher Gemeinderat.
Die Ahmadiyya-Gemeinschaft wurde in Indien gegründet, ihre Lehre wird von den meisten anderen Muslimen als «Häresie betrachtet und abgelehnt» (Wikipedia). Weil, verkürzt gesagt, die Ahmadiyya-Mitglieder glaubten, dass der von allen Muslimen erwartete Reformer und Messias bereits erschienen sei (Tages-Anzeiger). In der Schweiz haben sich erste Mitglieder 1946 niedergelassen, wo der Verein heute etwa 900 Mitglieder zählt, 300 von ihnen leben in oder um Zürich. 1960 hat die Gemeinschaft von der Stadt das Baurecht für eine Moschee erhalten, drei Jahre später stand sie, seit 1998 gehört der älteste muslimische Sakralbau des Landes dem Inventar schützenswerter Bauten an. Und im vergangenen November ist der Baurechtsvertrag ausgelaufen.
Um es kurzzumachen: Das Baurecht wurde für dreissig Jahre verlängert, inklusive Option auf weitere fünfzehn Jahre – «gegen den Willen der SVP» (Neue Zürcher Zeitung). Zum Glück, schreibe ich. Nicht weil ich mir etwas aus Religion und/ oder Sakralbauten mache, MvH ist das egal, er ist Agnostiker und vor allem Liberaler. Für mich wär’s genauso o.k., vom Sofa oder Klosett auf den Prime Tower, den Üetliberg, die römisch-katholische Kirche Balgrist sowie die Synagoge Zürich zu blicken, die 1884 im maurischen Stil erbaut wurde (schön und geschmackvoll, finde ich) sowie an der Nüschelerstrasse steht, übrigens.
1963 sprach der FDP-Politiker Emil Landolt zur Einweihung der Mahmud-Moschee von Toleranz, der liberalen Tradition Zürichs und davon, dass der Bau die Stadt kulturell noch reicher machen werde. Er hat recht bekommen; auch gab es in den vergangenen 58 Jahren nie Schwierigkeiten mit der Ahmadiyya-Gemeinschaft, ihrer Moschee oder dem Minarett. Was es dagegen 2020 gab: den Vorstoss, die Moschee rückzubauen (ein Minarett dürfte seit 2009 gar nicht mehr erst aufgestellt werden).
Die Welt wird zurzeit weniger liberal, eine Entwicklung in die falsche Richtung also – denn eine liberale Welt ist die Voraussetzung für eine wunderbare Welt.