PILLE FÜR DEN MANN
Stell dir vor, es ist Fussball-EM, und keiner schreibt/spricht darüber (bisher). Komisch – wann, wenn nicht in ernster Lage, sind kleine Fluchten nötig?
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Als ich diese Zeilen schrieb, dauerte es noch neun Tage bis zum Beginn der «Uefa Euro 2020», wie die bevorstehende Fussball-Europameisterschaft offiziell heisst. Gemessen an der Menge der bisher veröffentlichten Beiträge dazu in Zeitungen, Zeitschriften und auf World-Wide-Web-Newsportalen, die MvH nutzt, könnte es aber auch noch neun Wochen dauern. Oder neun Monate. Mit anderen Worten: Stell dir vor, es ist fast Fussball-EM, und keiner schreibt/spricht bisher darüber. (Sie sehen, aufmerksame Leserin, aufmerksamer Leser, ich bin vorsichtig – könnte ja sein, dass in den Tagen bis zum Erscheinen von MvHs Kolumne eine Berichterstattungslawine losgetreten wird.)
Was ich meine und was mir fehlt, sind pre event-, also Vorberichte wie – Ausnahme, die die Regel bestätigt – am vorvergangenen Wochenende in der NZZ am Sonntag mit der Überschrift «Schweizer Lexikon» (Unterzeile «Alles, was Sie über das Nationalteam wissen müssen»). Artikel also, die das Feinstoffliche beschreiben sozusagen und dadurch Vorfreude schaffen. Nicht Nach-Match-Protokolle wie «Österreich verliert gegen Nordmazedonien 0:1, Freistosstor nach einer halben Stunde aus weiter Entfernung war Sonderklasse» – wer will das danach lesen? Die, die’s interessiert, haben das Spiel verfolgt, als es stattfand, respektive sich zeitnah die Highlights im WWW angeschaut.
Früher war nicht alles besser, beim Eid nicht, findet Ihr Kolumnist, wie seine Nutzer vielleicht wissen. Doch das Antichambrieren eines Super-Mega-Anlasses wie der Fussball- EM, die, was Zuschauerzahlen angeht, bloss noch von der Fussball-Weltmeisterschaft übertroffen wird, betrieben meine Kollegen in der Vergangenheit leidenschaftlicher und stärker. Einige wenige Beispiele aus einer Vielzahl, unauslöschlich in meinem Langzeitgedächtnis gespeichert: «Die Pille für den Mann», Cover-Headline Süddeutsche Zeitung Magazin (mit Ball), «Gott ist rund. Die Kultur des Fussballs», Titel von Dirk Schümers Buch, bei Suhrkamp erschienen, oder «Vom Wallungswert einer Nationalmannschaft», Leitartikelüberschrift der Weltwoche von 1996, als diese noch eine Zeitung war, von, kein Witz, Ihrem Kolumnisten.
Mir scheint, dass heuer sogar der Panini-Bildli-Tausch, der in der Vergangenheit das Ding war, lahmt.
Es gab tatsächlich eine Zeit, in der es unter Gebildeten (sowie Eingebildeten) als schick galt, sich für Fussball zu interessieren beziehungsweise was davon zu verstehen. Marcel Reif, ein Schweizer Sportkommentator aus Polen, bekam 2003 den Adolf-Grimme-Preis, eine Fernsehsendungsauszeichnung, für seine Berichte von der Fussball-WM im Jahr zuvor für den Sender Premiere. Die Schriftsteller Pedro Lenz oder Lukas Bärfuss warben mit ihrem Sachverstand betreffend das ehemals vor allem von Mitgliedern der Unterschicht, Pardon: bildungsfernen Schicht beachtete Spiel für ihr Verständnis der Volksseele. Und viele Gescheite meinten, Günter Netzer, ein ehemaliger deutscher Nationalspieler, sei ein Denker – wie sonst hätte er «aus der Tiefe des Raumes» kommen können? Der Satz, nebenbei, ist von einem Feuilletonredaktor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Netzer vielleicht bauernschlau, aber wirklich kein Intellektueller (ich war mit ihm socially ein wenig bekannt).
Doch dieses Jahr herrscht – bis jetzt – Stille im öffentlichen Raum wie im Stadion während eines Geisterspiels. Weshalb das so ist? Keine Ahnung. Vielleicht, weil die Meinungs- und Stimmungsmacher mit anderem, Wichtigerem beschäftigt sind – Pandemiefolgen, Rahmenabkommen-Ende, Auswirkungen der Handelsstreitigkeiten zwischen Amerika und China ...
Andererseits, wann, wenn nicht in dieser ernsten Lage, ist Eskapismus gefragt, sind kleine Fluchten nötig? Ich weiss es nicht. Mir scheint, dass heuer sogar der Panini-Bildli-Tausch, der in der Vergangenheit bei Kindern jeden Alters das Ding war, lahmt. Und ich wünsche mir irgendwie den doofen Einzeiler zurück, den jeder Schweizer Journalist, der über grosse Turniere schrieb, an denen unsere Nati dabei war, wenigstens einmal brachte: «Wir haben keine Chance, packen wir sie.»
Wenn wir’s davon haben: Heute gibt’s den Match Türkei gegen Italien («Kebab-Pizza-Knaller»), morgen Nachmittag dann Wales gegen die Schweiz («Barrage in Baku») und am Dienstag, 15. Juni, Frankreich gegen Deutschland («vorgezogener Final»).
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