UN-VOGUE
Einst konnte man in der wichtigsten Modezeitschrift le beau monde sehen. Heute erlebt man bloss noch mit, wie sich das Magazin selbst abschafft.
Persönlich mag ich die Aussage «Früher war’s besser» nicht sehr. Weil sie oft nicht stimmt. Und einen die damit verbundene Haltung irgendwie alt aussehen lässt. Aber manchmal trifft sie zu, und dann soll man das auch sagen: «Früher fand ich die Vogue besser.»
Das war eine Untertreibung. In den vergangenen dreissig Jahren, seit ich die Zeitschrift sehe, war die Vogue die Währung für schöne Mode, Models, Fotos und weitere schöne Dinge, ohne die man ebenfalls durchs Leben kommt, mit denen es aber mehr Spass macht.
Damit ist, seit einem Dutzend Ausgaben oder so, Schluss. Schuld daran tragen die sogenannte cancel culture beziehungsweise die wokeness, zwei von Amerika nach Europa und zu uns ausgeführte gesellschaftliche Entwicklungen: Absage- und Löschkultur nämlich respektive «erhöhte Sensibilisierung für soziale Ungerechtigkeiten» (Wikipedia).
Einen Augenblick, das war zu einfach: Cancel culture und wokeness sind bloss vorgeschobene Gründe von mutlosen Journalistinnen (sowie ein paar, die zu vorauseilendem Gehorsam neigen und/oder wirklich daran glauben, was noch schlimmer ist) und Verlegern, die hoffen, dank biegsamem Rückgrat ein wenig länger Geld mit Print verdienen zu können.
Das waren ziemlich Bausch-und-Bogen-mässige Urteile, einverstanden. Also muss MvH nachliefern, woran er diese festmacht. Stellvertretend für die vielen verschiedenen Vogue-Magazine nimmt er die (grosse und, was Ausstrahlung sowie Einnahmen angeht, wichtige) amerikanische Ausgabe, das Heft von Januar 2021 etwa: Als Erstes fällt der rachitische Umfang auf (88 Seiten plus Umschlag), dieser steht in scharfem Gegensatz zur telefonbuchstarken Vergangenheit mit 500 oder mehr Seiten (ich erwähne fairerweise, dass Januarnummern nicht die fettesten sind).
Auf dem Cover ist Naomi Osaka, eine Tennisspielerin, die, ich möchte nicht sagen: «nicht gut» aussieht, stattdessen: «nicht gut genug» fürs Vogue-Titelbild. Von nun an geht’s bergab. Im «Brief der Chefredaktorin» schreibt Anna Wintour, sie sei stolz auf die geleistete Arbeit, was auch so verstanden werden kann: Wenigstens sie erkennt, dass die Zeitschrift, deren oberste Verantwortliche sie ist und die von insgesamt 26 Chefredaktorinnen in verschiedenen Ländern hergestellt wird, vom Weg abgekommen ist. «Unsere Arbeit zählt» ist ihr letzter, fast schon trauriger Satz – wer darauf hinweisen muss, weiss, wie wenig seine Arbeit zählt.
Aufwendig produzierte Bilderstrecken, mit denen einen früher Mario Testino (Me-Too-Vorwürfe von Männern), Tim Walker, Terry Richardson (Me-Too-Vorwürfe von Frauen) oder andere Fotografen in Wunderländer mitnahmen und dort glanzvolle Models in kostbaren Kleidern präsentierten, gibt’s nicht mehr. Stattdessen Bilder von (mir) unbekannten Künstlern, die weibliche Durchschnittsmenschen in Kleidung zeigen, die möglicherweise modisch ist. Ausnahme, die die Regel bestätigt: Annie Leibovitz (die keine Modefotografin ist, dafür lesbisch) porträtiert Schauspielerin Frances McDormand.
«Unsere Arbeit zählt» ist der letzte, fast schon traurige Satz – wer darauf hinweisen muss, weiss, wie wenig seine Arbeit zählt.
Wichtigste Bedingung, die das Personal auf der anderen Seite der Kamera erfüllen muss, so sieht’s aus: diversity, Vielfalt. Es finden auf redaktionellen Seiten sozusagen alle Platz, ausser schlanke, weisse Frauen, die, in meinen Augen, sexy zurechtgemacht sind. Zum Glück gibt’s noch (ein paar) Anzeigen, von Chanel zum Beispiel (doch dafür Fr. 17.90 zu zahlen, ist auch etwas rich).
Vielleicht war diese Ausgabe ein Ausreisser nach unten, hoffte ich. Bis Nr. 2 im Briefkasten lag: Cover-«Model» Kamala Harris in Converse-Turnschuhen, die ich mit 22 zu tragen aufhörte, weil ich mir bessere Sneakers kaufen konnte (und weniger riechende). Tiefpunkt des modestreckefreien Magazins: vierzig Seiten local talents für Leserinnen, die wissen wollen, wer zum Beispiel in Alabama Baumwollblusen entwirft (eine Frau mit Namen Florence Chanin für ihre Marke Alabama Chanin).
Von Anna Wintour, mit der ich nicht bekannt bin, kam keine Antwort. Weshalb ich Barbara Amiel fragte, ebenfalls eine Londoner Journalistin, die in New York arbeitete, als ihr Mann reich und Verleger war, und die mit Wintour befreundet ist. Sie sagte, sie zweifle daran, dass die neuen Inhalte Annas Sicht auf die Welt und Mode widerspiegelten. Sie meine vielmehr, dass diese an ihrem Job hänge.
Dieser Artikel erschien in der Weltwoche vom 18. März 2021.
Lieber Mark
Danke für den spannenden Artikel! Seit ich mich für meinen zweiten Roman mit dem Thema Mode und Nachhaltigkeit befasse (kein sexy Thema ... aber man kommt daran nicht vorbei, wenn die Hauptprotagonistin in einer Modefirma arbeitet ;-)), sehe ich die Schattenseiten der glamourösen Modewelt. Kann es sein, dass selbst die Vogue - für mich wie du schreibst die ultimative Plattform für Ästhetik und Verzauberung - auf diesen unvermeidlichen Zug aufspringen muss? Die Mode-Welt, die Produzenten wie auch wir Konsumenten müssen umdenken. Aber es ist schade, wenn die Ästhetik darunter leidet. Mode soll doch Spaß machen bei allem Verantwortungsbewusstsein! Man kann ja auch einfach weniger konsumieren und dennoch Spaß daran haben. Oder nicht?
Wie kann man nachhaltige und faire Mode, und den verantwortungsvollen Mode-Konsum sexy gestalten und die Mode wieder leuchten lassen? Ich weiß es auch nicht ... Und ich glaube, das ist das Problem von Anna Wintour.
Vielleicht hast du eine Idee und kannst in deiner nächsten Kolumne darüber schreiben?
Liebe Grüsse
Dina