WIR HELDEN DER ARBEIT
Die meisten Menschen chez nous verdienen längst genug Geld für ein easy life, mehr Freizeit und Ferien haben/machen aber die wenigsten – weshalb?
Werden auch Sie zahlende Abonnentin/zahlender Abonnent: https://markvanhuisseling.substack.com/subscribe. Sie ermöglichen Ihrem Kolumnisten so mehr Musse (oder wenigstens Einkommen). Danke.
«Summertime, and the livin’ is easy», Sommerzeit, und das Leben ist leicht. Sie kennen die Zeile, klar. Aber kennen Sie auch das Gefühl, das besungen wird? Ihr Kolumnist darf dies wohl nicht behaupten. Er erlebt stattdessen auch diesen Sommer wieder, dass die zwei oder so Wochen Ferien, die er im August zu verbringen plant, verdient werden müssen. Durch erhöhte Leistungserbringung davor und danach. Möglicherweise ist das bei Ihnen, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, anders. Weil Sie nicht in einer Schmürzel-Margen-Industrie tätig sind. Und es zu was gebracht haben. Oder wenigstens die «Summertime»-line «Your daddy’s rich and your ma is good lookin’» zu- trifft (Papi ist reich, Mami ist schön).
Das war die gute Nachricht. Die andere: Wir arbeiten nicht bloss sommers zu hart und zu viel, sondern in jeder Jahreszeit sowie jedes Jahr. Fast zur selben Zeit, als George Gershwin die Arie schrieb, veröffentlichte John Keynes seinen Essay «Die wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkel» (1930, vier Jahre früher also). Darin sagte er voraus, in hundert Jahren werde die wöchentliche Arbeitszeit fünfzehn Stunden betragen, weil bis 2030 in entwickelten Ländern der Wohlstand stark zunehmen sowie die Güterknappheit nachhaltig zurückgehen werde (dank zu erwartender Produktivitätsgewinne).
Er lag damit nicht richtig falsch. Die meisten Menschen chez nous verdienen beziehungsweise besitzen längst genug Geld für ein sorgenloses Leben oder jedenfalls eins ohne materiellen Mangel. Wo er dagegen gewaltig danebenlag: bei der Wochenarbeitszeit von fünfzehn Stunden; diese Art easy livin’ hat sich bisher nicht durchgesetzt, nicht in den Zürcher Stadtkreisen 4, 5 oder 10, wo anteilsmässig viele Wenigverdienerinnen und -verdiener wohnen. Und schon gar nicht unter reichen Leuten – diese verbringen noch mehr kostbare Lebenszeit mit Arbeit, obwohl sie sich Müssiggang leisten könnten.
Reiche verbringen noch mehr kostbare Lebenszeit mit Arbeit, obwohl sie sich Müssiggang leisten könnten.
Was ist das Problem, respektive welches führte in die Misere, falls es denn eines/eine ist? Verkürzt gesagt: Wir arbeiten nicht mehr für das, was wir brauchen, sondern für das, was wir wollen. In seinem neuen Buch «Work – A Deep History, from the Stone Age to the Age of Robots» beschreibt James Suzman, wie unsere Volkswirtschaften vermehrt technische Errungenschaften einsetzten und wohlhabender wurden (eine ältere, auf Deutsch erhältliche Ausgabe heisst «Sie nannten es Arbeit – Eine andere Geschichte der Menschheit»). Dass dabei aber bisher keine Maschine erfunden wurde, die unser Verlangen und unsere hierarchisch weiter oben angesiedelten Bedürfnisse befriedigt, sondern stattdessen neue Wünsche und Begehrlichkeiten erzeugt oder geweckt wurden, verschärfter Wettbewerb um gesellschaftliche Stellung etwa, auch bekannt als Status.
Suzman, ein Anthropologe aus Südafrika, arbeitete früher interessanterweise für den Diamantenproduzenten und -händler De Beers, später gründete er die Denkfabrik Anthropos in Grossbritannien. Als Menschenkundiger befasst er sich seit Jahrzehnten mit den Ju/’hoansi, Buschleuten aus Ostnamibia, die bis weit ins vergangene Jahrhundert als Jäger und Sammler unterwegs waren. Seine Erkenntnis: Die Ju/’hoansi arbeiteten, also jagten und sammelten, bloss zirka fünfzehn Stunden wöchentlich. Sie betrachteten sich als recht reich (was eine überraschende Einschätzung ist, da sie im Grunde kaum privaten Besitz hatten), zudem waren sie gesund, bewegten sich viel, assen ausgewogen plus abwechslungsreich. (Darüber, was sie in ihrer langen Freizeit trieben, liess sich auf Anhieb nichts finden.)
Können wir von unserem Ursprung durch Arbeitsteilung entfremdete Halbmenschen etwas lernen von solchen weisen, edlen Naturmenschen und ihrer Lebensart? Vermutlich. Andererseits: Zahlreiche Versuche, die zu weniger auf Wachstum ausgerichteten Gesellschaftsmodellen führen sollten, wurden auch in unserer Weltgegend oder in Amerika entwickelt sowie umgesetzt (Entschleunigung, Sie erinnern sich). Und scheiterten. Unter anderem weil überall und jederzeit genügend Leute mehr Leistung erbringen wollten. Möglicherweise weil sie sich mehr von irgendwas wünschten. Vielleicht weil sie einfach gerne arbeiteten. Summertime, Ferien- sowie Freizeit ist für sie nicht easy livin’, sondern harte Arbeit.
Mögen Sie, was Sie lesen? Share the love. Wählen Sie auf https://markvanhuisseling.substack.com/subscribe, wieviel Ihnen meine Arbeit wert ist (hint: den meisten zwischen 50 und 100 USD im Jahr). Danke.